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Der Bund bremst die Berliner Mobilitätswende massiv aus

Straßenrecht, Straßenverkehrsrecht und ein Privatverein mit hoheitlichen Aufgaben bevorzugen den Autoverkehr massiv

Aufschrift: "Ganz Berlin hasst die A100" auf der Baustelle der Verlängerung der Autobahn in Berlin © by Foto: Leonhard Lenz (CC0 1.0)

Auf Bundesebene tobt derzeit der nächste Kampf. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) möchte nicht nur den Bau von Schienenwegen beschleunigen, sondern auch den von Autobahnen. Betroffen wäre auch die Verlängerung der A100 vom 2024 zu eröffnenden neuen Ende am Treptower Park weiter bis nach Prenzlauer Berg, die der Bund gegen den Willen der Berliner Landeskoalition aus SPD, Grünen und Linke vorantreibt.

Unbeirrt der Klimakrise will der FDP-Politiker ein jahrzehntelang eingeübtes Muster bundesdeutscher Verkehrspolitik fortführen: Die massive Bevorzugung des Autoverkehrs vor allen anderen Verkehrsarten. Begonnen hatte diese auch juristisch manifestierte Privilegierung des Autos unter den Nazis in den 1930er Jahren. Diese Tradition ist auch nach dem Zweiten Weltkrieg unbeirrt fortgeführt worden.

Das Straßenrecht und Straßenverkehrsrecht des Bundes bremst bis heute die Verkehrswende in den Städten massiv aus. Tempo-30-Anordnungen – vielleicht sogar flächendeckend für Hauptstraßen mit begründeten Ausnahmen –, die Anlage von Zebrastreifen, die Einrichtung von Kiezblocks mit Tempo 20 ohne durchfahrenden Verkehr. All solche Maßnahmen werden verhindert oder für die Verwaltung massiv verkompliziert.

Die autofreie Friedrichstraße mit breitem Fahrradweg in der Mitte, einigen Fahrradfahrenden und Sitzmöbeln und Bäumchen an den Seiten
Musste nach Gerichtsentscheid abgeräumt werden: Die Flaniermeile Friedrichstraße. Hier fahren wieder Autos.

Eine der Folgen der Rechtslage war die erzwungene Wiederöffnung der sogenannten Flaniermeile Friedrichstraße für den Autoverkehr Ende November. Das juristische Problem bei dem Verfahren ist die Straßenverkehrsordnung (StVO) des Bundes, die der „Flüssigkeit und Leichtigkeit des Verkehrs“ absoluten Vorrang einräumt, immerhin seit 2009 noch ergänzt um die Sicherheit. Die StVO enthalte „keine Rechtsgrundlage, um den Fahrzeugverkehr allein wegen verkehrsordnungspolitischer Konzeptionen zugunsten des öffentlichen Nahverkehrs sowie des Anwohner- und Wirtschaftsverkehrs zu verdrängen“, so die 11. Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts in ihrer Eilentscheidung vom Montag (VG 11 L 398/22). Geklagt hatte übrigens eine Lokal-Betreiberin aus einer Parallelstraße.

„Die Straßenverkehrsbehörden könnten die Benutzung bestimmter Straßenstrecken nur aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten“, erklärte das Gericht. Vorausgesetzt werde „eine konkrete Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Straßenverkehrs“, die Wahrscheinlichkeit müsse „das allgemeine Risiko“ deutlich übersteigen. Auf den Punkt bringt das Inge Lechner von der aus dem Fahrrad-Volksbegehren hervorgegangenen Initiative Changing Cities: „Die StVO verlangt, dass Verkehrssicherheit mit Blut erkauft wird.“

Vor zwei Jahren kassierte die 11. Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts in einer Eilentscheidung zunächst auch die Pop-up-Fahrradwege (VG 11 L 205/20), im August dieses Jahres ebenfalls in einer Eilentscheidung eine Busspur auf der Clayallee in Zehlendorf (VG 11 L 345/22). Letztere unter anderem, weil laut einer bundesweit geltenden Verwaltungsvorschrift in der Spitze mindestens 20 Busse pro Stunde auf dem Abschnitt verkehren müssen. Das entspricht einem Drei-Minuten-Takt. Das Gericht bemängelte, dass nur neun Busse stündlich dort fahren. Die vom Gericht verwendete Zahl stimmt allerdings nicht, tatsächlich sind es bis zu 17.

Die Pop-up-Radwege durften letztlich bleiben, nachdem die Senatsmobilitätsverwaltung umfangreiche Unfalldaten nachlieferte und so die problematische Sicherheitslage aktenkundig machen konnte, bei der Busspur steht die endgültige Entscheidung noch aus.

Anfang Oktober schickten die Verkehrsstadträte aller Berliner Bezirke einen gemeinsamen Brandbrief an Bundesverkehrsminister Volker Wissing. Die ungewöhnliche Koalition aus acht Politikerinnen und Politikern der Grünen, drei der CDU und einer der Linken fordern darin „mehr Handlungssicherheit vor Ort“ und wollen „den Bürgern und Bürgerinnen mit einer zügigen Umsetzung von verkehrlichen Maßnahmen Vertrauen in die behördliche Handlungsfähigkeit geben“.

Komplexe Verwaltungsverfahren für einfache Maßnahmen

„Für die StVO sind Straßen für den motorisierten Individualverkehr einfach heilig“, sagt Jochen Biedermann über die aktuelle Rechtslage. Der Grünen-Politiker ist Verkehrsstadtrat in Neukölln. „Wenn man etwas erreichen will, muss man sich mit Hilfskrücken wie Teileinziehungsverfahren wahnsinnig komplexe Verfahren an die Backe binden“, so Biedermann. Nach momentaner Gesetzeslage seien Forderungen wie die, den kompletten Reuterkiez zu einem Kiezblock mit flächendeckendem Tempo 20 zu machen, bei dem die Einfahrt, aber nicht mehr die Durchfahrt für Autos möglich wäre, überhaupt nicht umsetzbar. „Wir müssen die Handlungsfähigkeit über unsere Städte wiederbekommen“, fordert Biedermann.

„Wir haben keine Gesetzgebung, die sagt: Was wollen wir in der Mobilität überhaupt erreichen?“, so Heiner von Marschall. Der VCD-Bundesverband fordert ein Bundesmobilitätsgesetz, wofür er auch einen Entwurf erarbeitet hat. Von Marschall sagt: „Wenn wir ein Leitgesetz haben, dann bedeutet das, dass eine Verordnung wie die Straßenverkehrsordnung entsprechend angepasst werden muss.“

„Wir haben Situationen, die wir den Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr erklären können. Und wenn ich etwas nicht mehr erklären kann, müssen wir etwas ändern“, sagte der Lichtenberger Verkehrsstadtrat Martin Schaefer kürzlich bei einer Diskussionsrunde auf Einladung des VCD Nordost. CDU-Politiker Schaefer hat ebenfalls den Brandbrief an Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) unterschrieben.

Auch CDU-Politiker wollen weniger autogerechte Regeln

Der Brief mache deutlich, dass die Klischees über einzelne Parteien – gemeint ist wohl vor allem seine CDU – in Bezug auf die Verkehrspolitik nicht stimmten, sagt Martin Schaefer. „Pragmatisch“ sei man, denn: „Alle, egal welche Partei wir vertreten, haben die gleichen Probleme in den Bezirken.“ Was jetzt geschehe, seien „politische Anweisungen“, die sich über das Votum der Verwaltung auf Basis der bundesrechtlichen Regelungen hinwegsetzen. Das sei „ungünstig“ für die Verwaltung, erläutert Schaefer. Und: „Das kannst du ein paar Mal im Jahr machen.“ Eine Standardlösung kann es also nicht sein.

„Mehr Flexibilität von Bundesseite würde Land und Bezirken das Leben einfacher machen“, sagt Kristian Ronneburg, der verkehrspolitische Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. Aus seiner Arbeit als Mitglied des Petitionsausschusses berichtet er, dass dort immer mehr Eingaben von Berlinern zur Verkehrspolitik eingehen.

Die spanische Dirección General de Tráfico wirbt mit dem Spruch “Mit 30 hast Du mehr Leben” für das allgemeine Tempolimit in spanischen Städten. Grafik: DGT

Flächendeckendes Tempo 30 in Städten rettet Leben, wie das Beispiel Spanien zeigt. Im Mai 2021 wurde das neue Limit für alle Straßen eingeführt, die maximal eine Spur pro Richtung haben. Mit durchschlagendem Erfolg für die Verkehrssicherheit: Die zuständige Generaldirektion Verkehr vermeldete für das Gesamtjahr 2021 einen „beispiellosen“ Rückgang der Verkehrstoten auf Stadtstraßen um 20 Prozent im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019. Bei zu Fuß Gehenden sank die Anzahl der Verkehrstoten sogar um 26 Prozent, bei Radfahrern um 34 Prozent.

VCD-Mann Heiner von Marschall fordert ein schnelles und radikales Umsteuern, um auch im Verkehrssektor die Klimaziele zu erreichen. Der BUND Berlin fordert gemeinsam mit anderen Verbänden im Bündnis „Berliner Straßen für alle“ die Halbierung des Autoverkehrs in der Hauptstadt bis 2030.

In einem Positionspapier vom März fordert der Deutsche Städte- und Gemeindebund „deutlich mehr Entscheidungsbefugnisse, damit sie vor Ort geeignete Maßnahmen schneller umsetzen und die benötigte Mobilitätswende beschleunigen können“.

Volker Wissing
Lässt wenig Interesse an einer schnellen Verkehrswende erkennen: Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP). Foto: Harald Krichel (CC BY-SA 3.0 DE)

Noch im Oktober hat der im Bundesverkehrsministerium für den Straßenverkehr zuständige Ministerialdirektor Guido Zielke den Stadträtinnen und Stadträten auf ihren Brief geantwortet. Darin vertröstete er sie auf eine Sonder-Verkehrsministerkonferenz (VMK) am 29. November – wo auch nicht viel in der Hinsicht geschah „Bitte haben Sie dafür Verständnis, dass ich diesen Beratungen nicht vorgreifen möchte“, heißt es in dem Schreiben.

Bereits im Mai fiel in der Konferenz der Verkehrsministerinnen und -minister der Länder und des Bundes der Beschluss, eine „länderoffene Arbeitsgruppe einzuberufen, die einen weitreichenden Konsens zwischen den teilnehmenden Ländern über eine Reihe praxisgerechter Handlungsvorschläge zur Anpassung des Straßenverkehrsrechts herstellen“ sollte, blickte Zielke zurück. Die Behandlung des Themas bei der regulären Konferenz vor etwas über zwei Wochen wurde jedoch durch die zähen Verhandlungen über eine Nachfolgeregelung für das 9-Euro-Ticket verdrängt.

Für den weiteren Verlauf kündigt Guido Zielke für das Bundesverkehrsministerium an: „Anschließend werden die von der Arbeitsgruppe vorgestellten Handlungsvorschläge im Lichte der Besprechung in der VMK und unter Berücksichtigung auch verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte im Bundesministerium für Digitales und Verkehr erörtert werden.“ Neuköllns Verkehrsstadtrat Biedermann kommentiert das sarkastisch: „Aus Sicht von Bundesverkehrsminister Volker Wissing hat man wohl alle Zeit der Welt.“

Ein Privatverein trifft weitreichende Entscheidungen

Und dann gibt es in der Phalanx der Autoprivilegierer noch einen privaten Verein, der hoheitliche Aufgaben übernimmt: Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. „Wir schaffen die Grundlagen für den Verkehr von morgen“, heißt es selbstbewusst auf dessen Homepage. Denn die FGSV erstellt das Technische Regelwerk für das gesamte Straßen- und Verkehrswesen in Deutschland. Durchaus in vielen Punkten sehr autofreundlich.

Forschende der Technischen Universität Berlin haben in einem kürzlich veröffentlichten Diskussionspapier die Geschichte dieses Vereins und den Einfluss der Regelwerke auf die konkrete Straßengestaltung untersucht. Man wolle damit „eine öffentliche Debatte über eine Neuverfassung der Verkehrsplanung“ befördern, heißt es im Vorwort des Papiers.

„Dass die Verkehrsinfrastruktur in Städten ihre heutige Form hat, liegt in normativen Vorstellungen der Vergangenheit begründet und lässt sich bis heute in den Regelwerken der Straßenplanung nachvollziehen. Eine Vielzahl dieser Regelwerke wird von der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) herausgegeben, welche als privater Verein eine bemerkenswerte Rolle in der Verkehrsplanung einnimmt“, schreiben die Forschenden.

Über Jahrzehnte sei der Radverkehr in den Veröffentlichungen als „Freizeitbeschäftigung“ thematisiert, der Fußverkehr als „Spazieren gehen“ bezeichnet worden. Das sei ein Indikator dafür, dass auch dieser „nicht als ernsthafte Fortbewegungsoption gesehen“ worden sei. Ebenso ein Opfer der Ansichten der Ingenieure und Ministeriumsbeschäftigten, die ihre Richtlinien bis heute ohne Beteiligung der Zivilgesellschaft verfassen, ist die Straßenbahn geworden. „In der westdeutschen Nachkriegszeit verfestigt sich zunehmend das Bild der Straßenbahn als antiquiertem Verkehrshindernis, welches dem Kfz-Verkehr im Weg ist und dessen Leistungsfähigkeit schmälert“, heißt es im Papier. Zwar betonten vielfach Autoren der damaligen Zeit, ein Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs sei unerlässlich, um den wachsenden Verkehrsmengen in Städten zu begegnen, dies habe sich aber nicht in der realen Umsetzung widergespiegelt.

Ein Zebrastreifen mit der Ruine eines Kirchturms im Hintergrund
Die Anlage von Zebrastreifen ist wegen Restriktionen in den Regeln der FGSV in vielen Fällen nicht möglich. Hier am Mirbachplatz in Weißensee. Foto: Geoprofi Lars (CC BY-SA 4.0)

Zu schmale Fahrradwege oder restriktive Vorgaben für die Anlage von Zebrastreifen sind einige der Folgen der Vorgaben der FGSV. Oder auch dies: „Für die Bemessung von Eckausrundungen ist zu beachten, dass das situationsabhängige gewählte Bemessungsfahrzeug die Eckausrundung zügig befahren kann“, heißt es in den Vorschriften für die Gestaltung von Kreuzungen. „Ein zügiges Abbiegen für das Bemessungsfahrzeug (bei Hauptverkehrsstraßen sind das Lkw, dreiachsige Müllfahrzeuge oder Schubgelenkbusse) zu ermöglichen, bedeutet, lebensgefährliche Infrastruktur für Fuß- und Radverkehr zu bauen“, attestierten die Forschenden der TU Berlin.

„Transformation ist ökologisch, gesellschaftlich, technisch und politisch in aller Munde, sodass es nur logisch ist, dass sich diese Transformation auch im gesamten Planungsprozess niederschlägt. Eine Fortsetzung des skizzierten historischen Entwicklungspfads wird es nicht ermöglichen, diese Transformation mit genügend Schwung voranzubringen. Eine grundlegende Debatte über eine neue Verfassung des Verkehrswesens mit dem Ziel einer Integrierten Verkehrspolitik und -planung tut Not“, so der Schluss des Diskussionspapiers.

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