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Graefekiez wird nicht parkplatzfrei, sondern Sharing-Mobility-Testfeld

Intensive Diskussionen im Vorfeld und die Straßenverkehrsordnung sorgen für abgespecktes Vorhaben

© by Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg

„Graefekiez ohne Parkplätze“ war der im Sommer 2022 mit den Stimmen von Grünen und SPD beschlossene Antrag in der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg überschrieben. Betroffen gewesen wären rund 2000 Auto-Parkplätze im Kreuzberger Kiez, in dem rund 22.000 Menschen leben.

„Im Rahmen dieser Intervention sollen für einen nach wissenschaftlichen Kriterien festgelegten Zeitraum (voraussichtlich zwischen sechs Monaten und einem Jahr) keine privaten PKW im öffentlichen Raum abgestellt werden. Die Straßen im Kiez sollen als Spielstraßen ausgewiesen werden. Die Durchfahrt Schönleinstraße soll zwischen Kottbusser Damm und Urbanstraße eingeschränkt werden“, heißt es im Beschluss. Und: „Das Befahren der Straßen soll jedoch grundsätzlich weiter möglich bleiben. Auch Zu- und Anlieferungen sollen weiterhin uneingeschränkt möglich sein. Die Parkplätze für Menschen mit Beeinträchtigungen sollen erhalten bleiben, ebenso wie weitere Parkmöglichkeiten für stationsgebundenes und auch flexibles Carsharing auf markierten Flächen. Weiterhin soll es ein zusätzliches Angebot für Mieträder und Mietlastenräder geben.“

Zeitplan und Gebiet des Verkehrsversuchs im Graefekiez – Grafik: Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg

Ein Dreivierteljahr später ist im März 2023 bei der Vorstellung des definitiven Projekts, das um das Wochenende am 22. April mit einem Straßenfest starten soll, durch das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg nur noch eine Schrumpfversion des Vorhabens übrig geblieben. Nur noch an zusammengenommen rund 400 Metern der Böckhstraße und Graefestraße sollen alle Auto-Parkplätze umgenutzt werden, was den Wegfall von etwa 80 Stellplätzen bedeutet. Weitere rund 320 Parkplätze sollen punktuell für 37 Lieferzonen und 13 Jelbi-Stationen der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) entfallen. An letzteren sollen Sharing-Fahrzeuge wie Autos, Fahrräder oder Elektro-Tretroller zur Verfügung stehen. Als weitere Maßnahme soll eine neue Diagonalsperre am Hohenstaufenplatz den Schleichverkehr zwischen Kottbusser Damm und Urbanstraße unterbinden.

„Schrittweise mehr Platz“ lautet nun der Untertitel des Verkehrswendeprojekts im Kiez zwischen Landwehrkanal und Hasenheide, das bei günstigem Verlauf vom sogenannten Kernbereich an Böckh- und Graefestraße schrittweise ausgeweitet werden könnte. Diese zwei Straßenabschnitte seien ausgewählt worden, weil sich dort drei Schulen befinden, erklärt das Bezirksamt. „Durch die geplanten Maßnahmen werden Sichtbeziehungen verbessert und Fahrgeschwindigkeiten reduziert“, heißt es.

Bei dem bereits vor 40 Jahren als Spielstraße ausgewiesenen Gebiet handele es sich um einen „unvollständig eingerichteten verkehrsberuhigten Bereich“, sagt die zuständige Bezirksstadträtin Annika Gerold (Grüne). Das führe zu einer „missverständlichen Situation und erhöhter Gefährdung für Rad- und Fußverkehr“. Im vergangenen Jahr sei beispielsweise vor der Lemgo-Grundschule das Tempo des Autoverkehrs gemessen worden – mit niederschmetterndem Ergebnis: Nur etwa zehn Prozent halten sich an das Tempolimit von fünf bis 15 Kilometern pro Stunde in Spielstraßen.

Nur ein Bruchteil der Autofahrer hält sich an das geltende Tempolimit in Spielstraßen. Grafik: Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg

Zwei Gründe nennt Stadträtin Gerold für das nun deutlich weniger radikale Vorgehen: Die „kontroversen Diskussionen“ um das Vorhaben und die Straßenverkehrsordnung des Bundes begründete Rechtslage. Letztlich lassen nur Sicherheitsaspekte Einschränkungen für den Autoverkehr inklusive des als „ruhender Verkehr“ bezeichneten Parkens zu.

Zum Straßenverkehrsrecht des Bundes, das das Auto massiv privilegiert, haben wir bereits einen umfangreichen Blogbeitrag veröffentlicht

„Wir haben uns bundesweit auch ähnliche Versuche angeschaut. Die Straßenverkehrsordnung ist nicht mehr zeitgemäß, denn sie verlangt einen Blutzoll. Man muss die Gefahrenlage genau qualifiziert darlegen. Und das ist uns auch unserer Ansicht nach gelungen“, sagt Andreas Knie, Verkehrsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Er begleitet den Verkehrsversuch umfangreich wissenschaftlich.

Doch es gab auch umfangreichen Widerstand gegen das Vorhaben. Die Bezirks-CDU hatte einen Einwohnerantrag dagegen initiiert, der 1444 gültige Unterschriften erhielt und daher in der BVV behandelt werden muss. Abschließend ist das noch nicht geschehen. Und die Linksfraktion kritisierte die mangelnde Bürgerbeteiligung zu dem Vorhaben. Auf Bezirksebene lässt sich der Aufruhr um das Projekt parkplatzfreier Graefekiez durchaus mit der Aufregung um die Teilsperrung der Friedrichstraße im berlinweiten Diskurs vergleichen.

Das WZB hat auch das Gutachten für die rechtliche Bewertung des Vorhabens in Auftrag gegeben, für das im Bezirkshaushalt kein Geld zur Verfügung steht. Die rund eine halbe Million Euro, die für die wissenschaftliche Begleitung und die Beteiligung der Anwohner veranschlagt sind, kommen von der Mercator-Stiftung, der Deutschen Bundesstiftung Umwelt sowie vom Climate Change Center Berlin Brandenburg der Technischen Universität Berlin.

Bisher nicht einmal Parkraumbewirtschaftung

Für Verwunderung sorgte das Projekt im ursprünglich radikalen Ansatz auch deshalb, weil es bis heute nicht einmal eine Parkraumbewirtschaftung im Bezirk gibt. Zwar sei das nötige Gutachten dazu bereits angefertigt, doch gebe es noch keinen Zeitplan für die Einführung, sagt Stadträtin Gerold. Sie begründet das mit den bekannten Personalproblemen in den Ordnungsämtern. Schon für die aktuell ausgewiesenen Parkraumbewirtschaftungs-Zonen reicht eigentlich die Anzahl der Beschäftigten nicht aus, auch fehlen dem Bezirk Räumlichkeiten für deren Unterbringung. Man setzt auf die künftige automatisierte Kontrolle mit sogenannten Scan-Cars. Doch fehlen dafür bisher die bundesrechtlichen Voraussetzungen.

Für die Beteiligung ist wiederum der Verein Paper Planes zuständig. Dessen Vertreter Simon Wöhr sagt: „Wir werden informieren über das Projekt, aber auch aufrufen, sich aktiv einzubringen.“ Eine Ausstellung mit Beispielen aus anderen Städten solle Inspirationen liefern. In den 400 Metern Straßenland des Kernbereichs soll ein Teil der Parkplätze entsiegelt werden – es geht auch um den klimagerechten Umbau der Stadt. Für solche Vorhaben, aber auch die Umnutzung von Stellplätzen durch sogenannte Parklets, setzt der Bezirk auf Senatsmittel. Aus den Erfahrungen in der Beteiligung sollen Gestaltungsprinzipien abgeleitet werden, die man im zukünftigen Freiraumkonzept übernehmen könne, so Simon Wöhr.

„Uns freut, dass es jetzt endlich losgeht“, sagt Verkehrsforscher Andreas Knie. Er erhofft sich viele Erkenntnisse. Etwa Antworten auf die Frage: „Kann man durch Umnutzung eine neue Qualität erzeugen und tatsächlich erreichen, dass weniger Autos fahren?“ Dass die Versuchsanordnung deutlich bescheidener ausfällt als ursprünglich angestrebt, hält Knie für keinen besonders großen Makel. „Damit haben wir schon genügend Irritationsmaterial“, sagt er. „Einmalig“ sei das in diesem Setting, etwas wegzunehmen und etwas anzubieten. Nur in der Kombination beider Maßnahmen gelingt eine Verkehrswende, so der Stand der Wissenschaft.

Mit Blick auf Knies bisherige Forschung lässt sich davon ausgehen, dass er sich viel von einem flächendeckend verfügbaren Sharing-Angebot verspricht. Immerhin war er von 2001 bis 2016 Bereichsleiter bei der Deutsche-Bahn-Tochter DB Rent, die inzwischen als DB Connect auch Sharing-Angebote betreibt.

Bereits die Diskussion des Vorhabens sorgte für Veränderungen

Allein schon die intensive Diskussion des im Juni 2022 von Grünen und SPD in der BVV beschlossenen Projekts habe für Veränderung gesorgt, berichtet Felix Weisbrich, Leiter des bezirklichen Straßen- und Grünflächenamts. Zu jenem Zeitpunkt haben noch 400 Stellplätze im nahegelegenen Parkhaus des Karstadt-Kaufhauses am Hermannplatz leergestanden. Nun seien es nur noch 100. „300 Leute haben sich für 50 Euro im Monat einen sicheren Stellplatz im Trockenen gesucht. Das ist schon ein Erfolg der Irritation“, sagt er.

Tatsächlich sind die Bewohner*innen des Kreuzberger Graefekiezes alles andere als autoaffin. Nur 182 Autos pro 1000 Anwohner*innen werden gezählt – nur etwas mehr als die Hälfte des berlinweiten Wertes von 335 Pkw pro 1000 Köpfe. Bundesweit vermeldete das Statistische Bundesamt 580 Autos pro 1000 Einwohner*innen für 2021.

Als Niederlage möchte Stadträtin Annika Gerold das deutliche Eindampfen des Vorhabens nicht verstanden wissen, auch wenn sie die ursprüngliche Radikalität für einen „spannenden Gedanken“ halte. „Wenn ich das Projekt vom Ende her denke, bin ich zufrieden mit dem abgewandelten Verfahren“, sagt die Grünen-Politikerin. Ob das Projekt im Graefekiez langfristig Bestand haben wird, darüber soll die BVV nach Vorliegen einer Auswertung im Frühjahr 2024 entscheiden. Klar ist: Solange der Bund an der Rechtslage nichts ändert, dürfte eine Ausweitung schwierig werden.

Ein Kommentar

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  1. Das ist alles total krank!! Ich bin einer der Fachlräfte, den dieses Land dringend benötigt. (Dipl. Ing. Energie und Versorgungstechnik. Ich bin der, der die dringend benötigten Gaskraftwerke plant und baut.
    Für meine Arbeit brauche ich ein Auto. Ich zahle sehr viel Steuern. Als Dank für diesen Beitrag an unser Sozialsystem, in dem ich jeden Tag arbeiten gehe werde ich noch bestraft in dem ich abends keinen Parkplatz mehr finde! Stattdessen beanspruchten vermüllte Altfahrzeuge und extrem viele Wohnmobile
    den ohnehin fast nicht mehr vorhandenen Parkraum!!
    Baut Parkhäuser für berufstätige!! Sonst leben in dem Kiz nur noch Touristen und Arbeitslose!
    Ich habe beschlossen, dieses von einer Öko Diktatur regierten Land zu verlassen und ziehe in die Schweiz,
    Dort zahle ich dann meine Steuern.
    Das planen übrigens mehrere Kollegen. Nur weiter so mit dem Irrsinn….

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