Print

Posted in:

TVO ist Kind der Autoverkehrs-Wachstumslogik und Hürde für den Bahn-Ausbau

Experten zweifeln an Bedarf für neue Hochleistungsstraße im Berliner Osten

© by BSBB

Der Berliner Senat will eine neue Tangentialstraße durch den Berliner Osten hauen. Doch die in der Planung angenommenen Voraussetzungen sind schon jetzt nicht mehr gegeben, geschweige denn bei einer möglichen Realisierung in den 2030er Jahren. Schlimmer noch: Der dringend benötigte Ausbau eines tangentialen Nahverkehrsangebots im Bereich könnte real unmöglich werden.

Das wurde deutlich bei einem Expertenforum Mitte Mai, zu dem die Bürgerinitiative Wuhlheide in das Stadion an der Alten Försterei eingeladen hatte. Rund 150 Interessierte folgten den Vorträgen, stellten Fragen. Kein einziger der Anwesenden sprach sich für das vom Senat forcierte Vorhaben, unter dem Namen Tangentiale Verbindung Ost (TVO) eine vierspurige Hochleistungsstraße durch das Gebiet zu schlagen.

Noch bis 8. Juli kann eine Einwendung gegen die TVO geschrieben werden.

Der Verkehrs- und Mobilitätsforscher Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) sprach von “uralten Planungen” für die TVO, deren Bau immerhin seit 1969 vorgesehen ist. “Damals war schon das zentrale Argument Wachstum, Wachstum, Wachstum. Und das ist es immer noch”, beschrieb Canzler.

Doch aktuell gebe es ganz andere Entwicklungen. “Es ist ein Rückgang und wir liegen bei fast allen Straßen weit unter dem Niveau von 2015”, erläuterte er mit Bezug auf das Jahr 2023. Ein Zehntel weniger Autoverkehr auf der Autobahn Avus, über ein Drittel weniger auf der Gradestraße in Neukölln, rund ein Fünftel weniger auf dem Adlergestell. Für nahezu alle Hauptstraßen Berlins gilt dieser Befund.

Das sei keine berlinspezifische Entwicklung, auch in Hamburg und anderen Bundesländern sei das zu beobachten. “Das sieht man auch an den Staustunden”, sagt Canzler. Auch diese gehen zurück. Das liege unter anderem am spätestens seit der Corona-Pandemie etablierten Home Office. Rund ein Viertel der Beschäftigten arbeite inzwischen regelmäßig von zu Hause aus – was wohl auch so bleiben werde. “Das heißt aber, dass damit auch erhebliche Wege wegfallen und erhebliche Pendlerströme eingeschränkt werden”, erläuterte der Wissenschaftler.

Diese Entwicklung lasse sich auch an der vom Kraftfahrtzeug-Bundesamt erfassten jährlichen Kilometerleistung pro Fahrzeug ablesen. Lag diese deutschlandweit noch bei 14.200 Kilometern, waren es im Jahr 2022 nur noch 12.300 Kilometer. “Das heißt, wir haben mehr Autos, die aber weniger gefahren werden – sie stehen mehr rum”, sagte Canzler. In Berlin seien diese Zahlen noch einaml geringer, dort würden Fahrzeuge jährlich unter 10.000 Kilometer bewegt. “Das heißt, wir haben im wesentlichen Stehzeuge, also Fahrzeuge, die herumstehen. Das erklärt auch den Rückgang der Verkehrsstärke”, unterstrich er.

Berlin sehe sich immer im Wettbewerb mit anderen Metropolen, handelt jedoch mit dem mindestens 400 Millionen Euro schweren Straßen-Neubauvorhaben gegen den internationalen Trend. Woanders würden “keine Straßen neu gebaut, sondern da wird zum Teil Rückbau betrieben, um Flächen zu gewinnen”. Das gelte nicht nur für die holländischen Städte mit ihrem hohen Radverkehrsanteil, sondern auch für London, Paris, Brüssel, Utrecht oder die südkoreanische Hauptstadt Seoul. “Die bauen momentan Straßen zurück, ganz systematisch. das ist ein ganz entscheidender Punkt, aus Gründen der Entsiegelung”, sagte Canzler. Nur dadurch würden wir die kommenden Hitzeperioden aushalten.

Weert Canzler nannte noch einen gewichtigen Punkt gegen den Straßenbau: “Je höher der Radverkehrsanteil in einem Ort, desto geringer ist das Unfallrisiko.”

Auch der Verkehrsplaner und Bahnexperte Axel Schwipps vom Bündnis Schiene Berlin-Brandenburg konnte nur Gründe finden, die gegen den Bau der TVO sprechen. Unter anderem das Bundesklimaschutzgesetz, demzufolge Deutschland in 20 Jahren klimaneutral sein müsse, Berlin wolle die CO2-Emissionen bis 2030 um 70 Prozent reduzieren im Vergleich zum Jahr 1990. “Mittelfristig muss die Zahl der Autos halbiert werden”, unterstrich Schwipps. Die neue Straße droht auch im erheblichen Umfang Güterverkehr in die Stadt zu ziehen. “Wenn die TVO kommt, gibt es eine Abkürzung um acht Kilometer zur A10 und die Strecke ist dazu noch mautfrei”, so der Experte.

Die parallel geplante Nahverkehrstangente sei jedoch ein “Stiefkind” der Verkehrspolitik und gerate zu Unrecht immer wieder etwas in Vergessenheit. “Sie ist ein Rückgrat und bindet Großwohngebiete wie Hohenschönhausen und Marzahn an. Sie bietet hervorragende Netzverknüpfungen und auch Verbindungen mit dem Umland”, erläuterte er. “Vorsichtig geschätzt” komme er auf 600.000 Berlinerinnen und Berlin, die im Einzugsbereich der Tangente lebten. “Nach derzeitigem Verkehrsträgeranteil kämen wir auf 48.000 Fahrten pro Tag. Da stecken 20 Prozent Umsteiger vom Auto drin”, sagte Schwipps. Bei 33 Prozent ÖV-Anteil am Berliner Verkehrsmix, wie der Senat für 2045 anstrebt, wären es 61.000. Derzeit haben Bahnen und Busse einen Anteil von 27 Prozent.

Das Bündnis Schiene Berlin-Brandenburg, ein Zusammenschluss zahlreicher Verbände, Initiativen, Kammern und Parteien, habe “aufwändig ein Regionalbahnkonzept mit bis zu acht Zügen pro Stunde entwickelt”, berichetete Schwipps. Der Senat habe sich jedoch Ende Februar 2024 für den Bau der Nahverkehrstangente als S-Bahn-Strecke entschlossen. “Wir sind nicht so ganz glücklich damit. Aber lieber eine 90-Prozent-Lösung als eine Null-Prozent-Lösung”, so der Bahnexperte.

Doch wirklich berücksichtigt werden die nötigen zwei neuen Nahverkehrsgleise neben den existierenden Ferngleisen entlang des Eisenbahn-Außenrings nicht. 2012 sei die TVO noch als zweispurige Stadtstraße östlich der bestehenden Bahnanlagen geplant worden. Zwischen der Straße und dem existierenden Gleispaar wäre ausreichend Platz für ein zusätzliches Gleispaar gewesen.

“Mit der vierspurigen Planung reicht der Platz nicht. Die Fernbahn müsste nach Westen rutschen, die Fernbahngleise zu Regionalverkehrsgleisen werden”, erläuterte Schwipps. Diese rücksichtslose Straßenplanung habe “drei schwerstwiegende Haken, ja eigentlich K.O.-Kriterien” für das Schienenprojekt.

Da sei erstens der erhebliche Zeitverzug für das Projekt. Denn zunächst müssten die neuen Fernverkehrsgleise gebaut werden, um die derzeitigen Ferngleise anschließend aufwendig umzubauen. Zweitens müssten die neuen Gleise ins Naturschutzgebiet Biesenhorster Sand gebaut werden; der Schutzstatus habe noch nicht absehabre Auswirkungen auf die Realisierbarkeit. “Drittens und ganz entscheidend: die Geldfrage”, so Schwipps. Denn diese Verschiebung koste ordentlich Geld, was wiederum deutliche Auswirkungen auf die für Bundeszuschüsse nöötige positive Nutzen-Kosten-Untersuchung haben könne.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert