“Wir können nicht immer nur zubauen, wir müssen rückbauen, dem Auto Flächen wegnehmen”, sagt Marco te Brömmelstroet. Der Professor an der Uni Amsterdam hat sich einen Namen als “Fietsprofessor”, zu deutsch “Fahrradprofessor” gemacht. Was aber nicht heißt, dass er bedingungslos dem Fahrrad Vorrang einräumen möchte.
Beispielweise hat er zusammen mit anderen für das niederländische Groningen neue Richtlinien für Straßen entworfen. “Bisher haben sie nur eine verkehrstechnische Richtlinie. Die ist total radverkehrsfreundlich, viele finden sie deswegen cool. Aber es geht eben nur um Verkehr”, sagt te Brömmelstroet im Gespräch mit der Umweltzone. In Berlin sehe das mit dem Mobilitätsgesetz und weiteren Verordnungen nicht anders aus.
Es gebe mindestens zehn verschiedene Dimensionen von Ansprüchen auf die Straße. Verkehr sei nur eine davon. “Es gibt den Begrünungsbedarf, den Berlin sicherlich auch hat, es gibt das Problem mit dem sozialen Zusammenhalt, ökonomische Fragen, die berücksichtigt werden müssen”, führt er aus. Es sollte nicht nur um das Verkehrswesen gehen, sondern darum, dass es ein allgemeines Interesse an nachhaltig funktionierenden Städten. Nicht nachhaltig reduziert auf Umweltaspekte, sondern eher im Sinne, dass sie überdauern, so der Professor.
System kann nicht aufrechterhalten werden
“Das derzeitige System kann nicht aufrechterhalten werden. Es ist kindisch zu glauben, dass in 200 Jahren Deutschland immer noch Autos produziert, allein schon, weil die Rohstoffe fehlen werden. Entweder wir sehen dieser Tatsache gemeinsam ins Auge oder wir werden von Zusammenbruch zu Zusammenbruch kommen. Und das erwarte nicht nur ich im wörtlichen Sinne in Deutschland, wenn man den Zustand der Infrastruktur betrachtet. Die Verkehrsbetriebe beklagen einen riesigen Instandhaltungsrückstau, die Brücken sind marode, die Bahn kämpft mit riesigen Verspätungen”, sagt te Brömmelstroet.
Über Fahrradautobahnen, die Visionen einer Hochleistungsinfrastruktur für Zweiräder, macht sich te Brömmelstroet eher lustig. “Das Problem ist nicht nur der Glaube an technologische Lösungen, sondern auch die menschliche Tendenz, Probleme zu lösen, indem noch etwas dazu gebaut wird, anstatt etwas abzubauen”, sagt er. Die heutige Verkehrsinfrastruktur sei “innerhalb sehr kurzer Zeit mit sehr großem Materialeinsatz entstanden – Asphalt, Beton und Stahl”, ein großer Teil davon sei am Ende seiner Lebensdauer.
Es werde also immer schwerer werden, die bestehende Infrastruktur am Laufen zu halten. Einerseits, weil die Rohstoffe langsam ausgingen. “Andererseits, weil viele negative Auswirkungen, zum Beispiel auf die Umwelt, externalisiert, also nicht dem Verursacher angelastet worden sind.” Dadurch hätten die Auswirkungen über lange Zeit ignoriert werden können. Der Autoverkehr steche dabei besonders heraus, weil er sehr ineffizient bei Materialeinsatz und Energieverbrauch sei.
“Der Gedanke, dies zu lösen, indem man immer noch mehr dazu baut – Fahrradautobahnen oder neue Technologien wie die Röhrenbahn Hyperloop oder Magnetschwebebahnen – ist absurd. Rückbau ist der einzige Weg, wie wir die Probleme lösen können”, unterstreicht te Brömmelstroet.
Paris als leuchtendes Beispiel
Nicht nur aus seiner Sicht gelingt der Kurswechsel gen Verkehrswende in Paris aktuell besonders gut. Der Umschwung sei gelungen, als die gewählte Bürgermeisterin Anne Hidalgo gesagt habe: “Ich will die Stadt reparieren. Ich will sie lebenswerter machen. Ich will die Probleme im sozialen Zusammenhalt lösen. Ich will gegen die Einsamkeit vieler Menschen kämpfen.”
“Sie wurde wiedergewählt und hatte das Mandat, in den vergangenen zwei Jahren fast 200 autofreie Schulstraßen zu bauen und in wenigen Jahren die unglaubliche Zahl von 170 000 Bäumen zu pflanzen”, berichtet der Professor sichtlich angetan. Und das funktioniere in Paris, “weil es in der Diskussion nicht mehr um die Verkehrswende, nicht um diesen Kulturkampf, nicht gegen Autos geht”.
In Berlin wird in der politischen Auseinandersetzung nicht nur in der Verkehrspolitik der Gegensatz zwischen Innenstadt und Außenbezirken betont. Dass die Pariser Stadtregierung den politischen Vorteil habe, sich nur auf eine im Berlin-Vergleich innerstädtische Bevölkerung stützen zu müssen, lässt te Brömmelstroet trotzdem nicht gelten.
“In beiden Welten haben die Menschen Kinder, die die gleichen Probleme haben. Man kann also eine gemeinsame Basis finden”, sagt er. Der Fokus müsse dabei auf sozialer Gerechtigkeit liegen und man müsse auch anerkennen, dass auch die derzeitige Autoabhängigkeit von sozialer Gerechtigkeit weit entfernt ist.
Die Widerstände, dem Auto den wertvollen städtischen Raum zu entziehen, sind groß. Nicht zuletzt dürfte die Diskussion darüber beigetragen haben, dass nun mit Kai Wegner ein Regierender Bürgermeister von der CDU im Roten Rathaus sitzt. “Berlin, lass dir das Auto nicht verbieten”, plakatierte seine Partei im Wahlkampf. Eine “Miteinander”-Rhetorik prägt nun das verkehrspolitische Handeln, in der das Auto nicht als Schmuddelkind des Verkehrs gebrandmarkt werden soll. Während der geplante Bau der TVO für mindestens 400 Millionen Euro trotz Haushaltskrise nicht in Frage gestellt wird, werden der Ausbau der Fahrrad-Infrastruktur und des ÖPNV als Bereiche mit großem Einsparungspotenzial gesehen.
Anders über Verkehrswende sprechen
“Wir müssen die Sache also anders verkaufen”, sagt te Brömmelstroet. Nicht in einer Verkehrsplanungs-Sprache, dass man dieses sperre und jenes öffne. “Stattdessen sollten wir lieber sagen, dass wir die Stadt zum Beispiel kinderfreundlicher machen wollen. Ich denke da würden 80 bis 90 Prozent der Berlinerinnen und Berliner mitgehen”, ist er überzeugt.
“Die Sprache, die wir sprichen, formt die Realität. Die Wörter, die wir nutzen, um über alles Mögliche zu sprechen, die Stadt, das Leben, die eigene Hochzeit, Mobilität oder Fahrradfahren ist keine objektive Beschreibung. Aber die Worte, die wir nutzen, wenn wir die Verkehrswende voranbringen wollen, definieren, wie die Stadt in 50 Jahren aussehen wird”, sagt te Brömmelstroet.
“Ich bin davon überzeugt, dass in Berlin als nächstes großes Volksbegehren ein Kinderentscheid kommen muss”, sagt Marco te Brömmelstroet.
“Wir dürfen uns nicht so stark auf jene konzentrieren, die bereits progressiv sind. Wenn wir auf eine andere Art über das Problem sprechen, werden wir feststellen, dass es breite gesellschaftliche Unterstützung für das Anliegen gibt”, unterstreicht der Professor. Weil man an den “alten Debattenformen” festhalte, geschehe etwas, das als “pluralistische Ignoranz” beschrieben werde. Viele Menschen seien aber grundsätzlich für progressive Veränderung, wenn man sie frage.
“Aber sie glauben, dass sie eine Minderheit sind, wenn sie für weniger Autos rund um die Schule ihrer Kinder sind. Sie glauben, dass nur wenige so denken und wollen nicht die nervige Mutter oder der überbesorgte Vater sein”, führt der Professor aus. “Wir wissen aber, dass 80 Prozent aller Eltern so denken.”
Er stützt seine Ansicht nicht nur auf das aktuelle Beispiel Paris, sondern auch auf das historische Beispiel der Niederlande der 1970er Jahre. Damals habe es begonnen mit Protesten der Bewegung für den “Stopp des Kindermords auf den Straßen”, es sei aber auch um bezahlbares Wohnen gegangen. “All das kam zusammen. Und das zeigte, dass eine große Mehrheit es anders wollte”, sagt er.
Status ist nicht gottgegeben
Man müsse sich immer vor Augen halten: “Der Status quo ist nicht gottgegeben, sondern er wurde entworfen. Wir können den Entwurf ändern, ohne dass die Welt auseinanderfällt.” Das ist auch ein Thema seines Vortrags, zu dem er Ende Juni als Sprecher auf der Sommerkonferenz des Citylabs Berlin eingeladen ist. Te Brömmelstroet vergleicht auf der Bühne den Urwald, der im Rahmen der Forstwirtschaft zu Holzplantage umgeformt wurde, mit der “Urstraße”, die mit dem Siegeszug des Autos vor allem als Verkehrsweg definiert worden ist, um schnell von A nach B zu kommen. Und erklärt, dass die ersten Verkehrsplaner ursprünglich aus dem Wasserbau kamen, woher die Dogmen des ungestörten Fließens stammten. Er macht auch Werbung für sein Buch, das im Oktober in deutscher Fassung erscheinen soll. “Gesellschaft in Bewegung: Wie wir unsere Städte lebenswerter machen können”, so der Titel.
“Es gibt diese große Angst vor Veränderung. Aber wir brauchen den Mut und die Neugier, an den Gegebenheiten herumzuspielen und zu sehen, was passiert”, fordert er. “Was wird passieren, wenn Kinder jeden Morgen das Recht und die tatsächliche Möglichkeit haben, morgens selbstständig zur Schule zu gehen?”, will er wissen.
Auch Deutschland habe die UN-Kinderrechtskonvention unterschrieben, in der dieses Recht enthalten sei, wir seien also rechtlich verpflichtet, unseren Kindern wesentlich bessere Städte zu bieten als sie es derzeit sind. “Ich denke, dass dieses Recht in mehreren Ländern bald ein Fall für die Gerichte sein wird”, so der Professor.
Dann könne man auch verbieten, einfach überall am Straßenrand zu parken, weil das unsicher für Kinder sei, so einer seiner Gedanken zu den möglichen Konsequenzen. Schließlich könnten sie nicht über geparkte Autos blicken, was oft zu Unfällen führt. “Berlin könnte die erste Metropole werden, die sagt: Wir sind die erste Millionenstadt, die für Kinder funktioniert”, so te Brömmelstroets Vision.
Poller erobern nur schwer die Herzen
Wie es einfach gehe, hätten in Berlin gerade die Fanzonen zur Fußball-EM gezeigt. “Auf einmal ist die Mitte der Stadt autofrei.” Warum müsse also neue Infrastruktur hinzugefügt werden, wenn ein paar Poller reichen?, will der Professor wissen. Die Herzen dafür zu gewinnen, sei allerdings schwierig, “denn natürlich ist die politische Aussage viel sexyer, eine neue Fahrrad-Autobahn zu bauen, als zu sagen, dass wir eine Auto-Fahrspur wegnehmen, um sie für andere Zwecke zu nutzen”.
Dass es “tatsächlich eine große Frage” sei, wie der Autoverkehr vor dem Hintergrund zurückgedrängt werden kann, dass gerade Geringverdienende oft im Stadtzentrum arbeiteten, wegen geringerer Miten aber weit draußen wohnen, räumt te Brömmelstroet ein. “Der erste Schritt müsste sein, sich vor Augen zu führen, wie es dazu kam. Denn es kam nicht einfach dazu, nein, der Autoverkehr in der heutigen Dimension wurde in den letzten Jahrzehnten erschaffen”, so te Brömmelstroet. Ein wichtiger Mechanismus, um den Prozess umzudrehen, sei die “Beendung der Marktverzerrung” zugunsten des Autoverkehrs. “Eine kürzlich veröffentlichte Studie zeigt, dass in Deutschland rund 40 bis 60 Prozent der tatsächlichen Kosten, ein Auto zu besitzen und zu fahren, von der Gesellschaft getragen werden. Diese Subventionierung ist ein wichtiger Grund, warum der Autobesitz und die Nutzung ein Weg wurden, um das Wohnraumproblem zu lösen”, sagt der Professor.
Endlich Kostenwahrheit für den Autoverkehr
Ökonomen verträten die klare Ansicht, dass die tatsächlichen Kosten auf das Auto umgelegt werden müssen. “Dabei geht es nicht nur um die Kostenwahrheit, es geht beispielsweise auch um Tempolimits. Denn auch das senkt die externen Kosten, beispielsweise durch weniger Lärm für Anwohnende und weniger und leichtere Unfälle”, führt te Brömmelstroet aus. “Natürlich muss man die Menschen unterstützen, die in der Abhängigkeit vom Auto gefangen sind und man wird sie wohl noch eine Weile subventionieren müssen”, sagt er. Die Stadtentwicklungs-Dynamiken würden sich durch ein Herunterfahren der Subventionen für den Autoverkehr zwar nicht über Nacht ändern. Aber nach und nach werde es dazu führen, dass Immobilienentwicklungen irgendwo weit draußen nicht mehr attraktiv sein werden. “Heute ist es noch attraktiv, weil der Einzelne nicht den vollen Preis dafür zahlt, den die Gesellschaft zahlt”, so der Professor
“Ich finde es schon fast lustig, dass es über 50 Millionen Autos in Deutschland gibt aber das über die Hälfte aller Autofahrten kürzer als fünf Kilometer sind. Man könnte also sagen, dass die meisten diese Fahrten nicht wirklich nötig sind und man sie ersetzen könnte”, sagt te Brömmelstroet. “Jene, die wirklich auf das Auto angewiesen sind, sollten eigentlich sehr dafür sein. Denn derzeit sind sie in einer Autoschlange mit Menschen, von denen 60 Prozent eigentlich gar nicht im Auto sitzen sollten”, so der Experte. “Krankenschwestern und viele andere, die wirklich mit dem Auto irgendwo hinmüssen, sollten eigentlich die glühendsten Unterstützer sein, dass kostenloses Parken abgeschafft wird und Leute nicht mit ihrem Auto die Autobahn verstopfen, wenn sie andere Möglichkeiten hätten”, unterstreicht er und erklärt: “Das ist eine der verrückten Sachen, wenn eben beispielsweise Krankenschwestern als Beispiel dafür genutzt werden, warum wir das Verkehrssystem nicht ändern können, weil viele Menschen darauf angewiesen sind.”