Bereits zwei Wochen nach Bekanntwerden des von der Verkehrsverwaltung den Bezirken gegenüber verfügten Radwegestopps hat die zuständige Senatorin Manja Schreiner (CDU) einen eigenen Begriff dafür gefunden. “Atempause” nennt sie in der Fragestunde des Abgeordnetenhauses diesen Donnerstag die Aussetzung der Finanzierung von Radwegprojekten, die die Bezirke umsetzen. Zuvor beließ sie es tagelang bei dem Hinweis, dass “Stopp” keine von ihr genutzte Bezeichnung des Vorgehens sei. Ihr Parteifreund, der Abgeordnete Johannes Kraft, sagt am gleichen Sitzungstag: “Es gibt keinen Radwegestopp. Wir haben die Projekte nur angehalten, ganz kurz.“ Was der Unterschied zwischen Anhalten und Stoppen sein soll, bleibt das Geheimnis der CDU.
Seit dem 15. Juni rollt eine Empörungswelle durch die Stadt. Vereine und Verbände der Verkehrswende-Lobby und die nun auf Landesebene oppositionellen Grünen und Linken werfen Verkehrssenatorin Manja Schreiner vor, das Rad zurückdrehen und die auch für die Verkehrssicherheit nötige Umverteilung der Straßenraums zugunsten des Umweltverbunds aus Fuß-, Radverkehr und Öffis stoppen zu wollen. Am Nachmittag des Tages hatte die Lichtenberger Verkehrs-Bezirksstadträtin Filiz Keküllüoğlu (Grüne) eine Mail aus der Senatsverwaltung öffentlich gemacht, die sie just an jenem Tage erreicht hatte.
„Manja Schreiner behält sich vor, die Umsetzung von angeordneten Radverkehrsanlagen vorübergehend auszusetzen. Sie wird künftig andere Maßstäbe an die Straßenaufteilung setzen. Sie hat die Mitarbeiter der Senatsverwaltung aufgefordert, derzeit keine Stellungnahmen abzugeben, Prüfungen, Anhörungen vorzunehmen, keine Anordnungen zu erteilen, bis eine Entscheidung gefallen ist. Hierzu gibt es auch keine zeitliche Vorgabe. Dies betrifft Projekte mit folgenden Kriterien: Projekte, die den Wegfall von einem oder mehreren Fahrstreifen zur Folge haben, Projekte mit dem Wegfall von Parkplätzen, der Wegfall von einem Parkplatz reicht schon aus. Und Projekte, die Tempo 30 km/h über lange Strecke beinhalten“, trug Keküllüoğlu laut “Changing Cities” aus dem Schreiben in der Bezirksverordnetenversammlung vor.
Nur einen Tag später versammelten sich am späten Nachmittag Hunderte vor der Senatsverkehrsverwaltung am Köllnischen Park, um gegen den Rollback bei der Verkehrswende zu protestieren. Aufgerufen hatten dazu “Changing Cities” und der ADFC Berlin. Ein Demonstrant hatte ein Plakat gebastelt, auf dem neben Manja Schreiners Konterfei der Spruch zu lesen war: “Für Kais Wiederwahl gehe ich über Leichen” Gemeint war der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU). Tatsächlich ging es bei der Demonstration nicht nur darum, dass aus Umwelt- und Klimaschutzgründen ein Zurückdrängen des Autoverkehrs unerlässlich sei. Es ging auch um die zahlreichen Verkehrstoten und -verletzten, vor allem zu Fuß gehende und Fahrrad fahrende. Eben jene, die sich den Verkehrsraum ungeschützt mit tonnenschweren Fahrzeugen teilen müssen.
Am Montag drauf verschickte die Senatsverkehrsverwaltung eine Pressemitteilung, die einiges klarstellen und zurechtrücken sollte, denn wie Manja Schreiner nicht müde wird zu betonen: Die Mail sei nicht von ihr autorisiert gewesen und die Sachverhalte stimmten nicht. Unverändert weitergeführt sollen demnach werden:
- Beschlüsse der Unfallkommission zur Erhöhung der Verkehrssicherheit (Schwerpunkt: Sicherheit Kreuzungsbereiche)
- Vorhaben in Zusammenhang mit der Schulwegsicherheit
- Vorhaben zur Umsetzung des Sofortprogramms des Senats zur Unterstützung der Bezirke bei der Umsetzung von Fußgängerüberwegen
- Vorhaben zur Sanierung von bestehenden Rad- und Fußverkehrsanlagen (ohne Veränderung der Querschnittssaufteilung)
- Vorhaben
- ohne Wegfall von Fahrstreifen, Bussonderfahrstreifen oder sonstigen Einschränkungen des ÖPNV
- ohne erhebliche Beeinträchtigung von Wirtschafts- und Lieferverkehr
- mit Wegfall einer überschaubaren Anzahl von Parkplätzen (abhängig von den örtlichen Gegebenheiten z. B. nicht mehr als zehn Parkplätze auf 500m)
“Alle nicht oben genannten Projekte und noch nicht begonnenen Maßnahmen ruhen bis zur Billigung der weiterentwickelten Jahresplanung nach Maßgabe der Richtlinien der Regierungspolitik. Jegliche Finanzierungsachverhalte, welche in Zusammenhang mit noch nicht beauftragten Radverkehrsmaßnahmen stehen, ruhen vorerst bis zur Billigung der neuen Jahresplanung”, heißt es in der Mitteilung.
Laut der Verwaltung soll die Prüfung nach folgenden Kriterien erfolgen:
- Welche Ziele werden verfolgt und welche Zielkonflikte sind mit der geplanten Maßnahme zu erwarten?
- Welche Verkehrszahlen liegen für die jeweiligen Verkehrsteilnehmergruppen an den jeweiligen Örtlichkeiten vor und wie wurden diese bei den Planungen berücksichtigt?
- Welche Alternativen zu den derzeitigen Planungen gäbe es, damit Einschränkungen für den motorisierten Individualverkehr und des ruhenden Verkehrs ggf. geringer ausfallen würden?
- Wie weit sind die Planungen vorangeschritten?
“Zwei, drei Wochen” solle diese Prüfung dauern, lässt sich Senatorin Schreiner seit über einer Woche vernehmen, diesen Donnerstag im Abgeordnetenhaus erklärte sie, am Dienstag die erforderlichen Unterlagen erhalten zu haben. Konsequent spricht Schreiner von einer “Priorisierung” der Projekte. Der Grünen-Abgeordnete und ehemalige Finanzsenator Daniel Wesener kritisierte die Senatorin am Mittwoch im Verkehrsausschuss für die falsche Wortwahl. Denn tatsächlich gehe es ihr um neue politische Prioritäten, was bei einem Regierungswechsel durchaus legitim sei. Doch dann müsse man das auch so benennen.
Am Dienstag versammelten sich fast alle bezirklichen Verkehrsstadträte der Grünen zur Pressekonferenz. “Mit dem jüngsten Schreiben der Senatsverwaltung, in dem die Rücknahme aller Finanzierungszusagen für alle Projekte nach den in der Pressemitteilung der SenMVKU genannten Kriterien verlautbart wird, ist eine sachgemäße Jahresplanung in der Straßen- und Grünflächenämtern im Land Berlin nicht mehr möglich. Zu den gestoppten Vorhaben gehören explizit auch Projekte, bei denen eine Bundesförderung vorliegt und nur ein geringer Eigenanteil durch das Land Berlin getragen werden muss. Wir befinden uns mitten im Jahr, die Bezirksverwaltungen müssen sich darauf verlassen können, dass Finanzierungszusagen des Senats nicht willkürlich ausgesetzt werden – völlig unklar auf welcher Rechtsgrundlage. Insbesondere Fördermittel in mehrstelliger Millionenhöhe werden verfallen, wenn die Projekte nicht zeitnah ausgeschrieben werden. Die Kapazitäten der Baufirmen sind in der zweiten Jahreshälfte stark ausgelastet”, heißt es in einer in der Folge verschickten gemeinsamen Presseerklärung.
“Stand heute sind ja null Fördermittel verfallen”, hieß es dazu am Mittwoch lapidar von der Senatorin. Tatsächlich kann das aber passieren, wenn zum Kassenschluss am 15. Dezember die Projekte nicht abgerechnet sind. Wofür sie fertiggestellt sein müssen. Diesen Donnerstag erklärte Schreiner sogar, dass es vielleicht besser sei, Fördermittel verfallen zu lassen als schlecht geplante Radwege zu realisieren.
In einem konkreten Fall sagt Manja Schreiner sogar, wo sie keinen Radweg haben möchte: In der Torstraße in Mitte. Schließlich gebe es mit der Linienstraße parallel eine Fahrradstraße. Ihr Credo: die Hauptstraßen sollten leistungsfähig für den fließenden Verkehr sein. Sie meint damit wohl den Autoverkehr. Nur so könnten die Nebenstraßen und Wohnkieze entlastet werden. Zumal diese auch für Polizei und Rettungsdienste wichtig seien. Dass 3,50 Meter breite Fahrradspuren als sogenannte Safe Lanes es Blaulichtfahrzeugen ermöglichen würden, unbehelligt vom Autostau wesentlich schneller als bisher zum Einsatzort zu kommen, scheint sie noch nicht gehört zu haben. So zumindest die Erfahrung in vielen staugeplagten Städten weltweit, die großzügige Fahrrad-Infrastruktur geschaffen haben. Und auch, dass dem ihrer Verwaltung unterstellten Center Nahverkehr Berlin neueste Daten vorliegen, die eine erhebliche Abnahme des Autoverkehrs belegen, scheint Schreiner nicht zu bekümmern. Laut den Daten hat der Autoverkehr in Berlin trotz einer Rekordzahl an Zulassungen den niedrigsten Stand seit 1991 erreicht.
Einen Punkt hat die Senatorin allerdings: Sie kritisiert durchaus zu Recht, dass ihre Verwaltung bisher über keinen Überblick verfüge, wo welche Projekte in welchem Stadium seien. Genau diese Liste baue man derzeit auf. Bisher sei die Schnelligkeit der Umsetzung das einzige Kriterium gewesen.
Durch die nicht abreißende heftige Kritik sah sich offenbar auch der Regierende Bürgermeister Kai Wegner genötigt, am Dienstag in der Senatspressekonferenz Senatorin Schreiner zu stützen. “Ich verstehe die ganze Aufregung gar nicht”, sagte er. “Wir machen das, was eine neue Regierung und eine neue Senatorin eigentlich immer machen sollte. Man überprüft, was die Vorgängerregierung, die Vorgängersenatorin gerade gemacht hat. Das findet gerade statt. Nicht mehr und nicht weniger. Und dann wollen wir eine Priorisierung hinbekommen”, so Wegner weiter.
Schließlich folgte das Credo, das die CDU bereits im Wahlkampf mantraartig vorgetragen hatte: “Wir nehmen alle Verkehrsteilnehmer in den Blick: Fußgänger, Nutzer der Öffis, Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer – und ja eben auch: die Autofahrer. Und dabei bleibt es auch und das wird die Verkehrspolitik dieses Senats sein.” Wegner erklärte: “Ich stehe zu 100 Prozent hinter der Verkehrssenatorin in diesem Bereich, was sie da gerade tut.” Politisch nicht die glücklichste Lage für eine Senatorin, die noch keine zwei Monate im Amt ist.
Wegner kritisierte auch die Vorgängerregierung: “Die Bilanz nach sechs Jahren Verkehrsverwaltung durch die Grünen ist alles andere als gut in der Stadt. Auch und gerade was Radwege angeht. Und ich will, wir haben den Anspruch und es steht auch sehr klar im Koalitionsvertrag: Dass wir mehr und vor allem sichere Radwege bauen wollen.” Allerdings ist es zweifelhaft, wie der chaotische Planungsstopp zu dem vorgetragenen Anliegen passen kann.
Kritik kommt auch vom Koaltionspartner SPD. Laut polternd von Fraktions- und Co-Landeschef Raed Saleh, der zurecht von einem “Kommunikationsdesaster” sprach. Oder eher in Feststellungen verpackt, wie vom verkehrspolitischen Sprecher Tino Schopf im Ausschuss am Mittwoch: “Es ist wichtig, dass es eine weitere Verzögerung von Radverkehrsprojekten nicht geben soll. Denn das ist für die Verkehrssicherheit kontraproduktiv.”
Dass es alles andere als rund läuft mit der neuen Führungsspitze der Senatsverkehrsverwaltung zeigt die Reaktion auf Fragen zum 29-Euro-Ticket, dem vermeintlichen SPD-Wahlkampfschlager, der sich auch im Koalitionsvertrag wiederfindet. Während Verkehrs-Staatssekretärin Claudia Elif Stutz (CDU) am Mittwoch im Verkehrsausschuss erklärte, dass es mit Brandenburg noch keine Gespräche zu einer Einführung gegeben habe, erklärte Senatorin Schreiner am Donnerstag im Plenum des Abgeordnetenhauses, dass schon sehr lange mit Brandenburg gesprochen werde. Dies stelle sie klar, falls ein “falscher Eindruck” am Vortag entstanden sei.
Unbeeindruckt von den rhetorischen Windungen von Schreiner, Wegner und Co zeigen sich die Vereine, Verbände und Initiativen aus dem Verkehrs- und Umweltbereich. Changing Cities, ADFC Berlin und Fridays for Future rufen zur Fahrraddemo auf. Diesen Sonntag (2 .7 .2023) soll es in einer großen Runde von Prenzlauer Berg zum Roten Rathaus gehen. Auch wir unterstützen die Demonstration.
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