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Kipppunkt für die Berliner S-Bahn-Vergabe vor dem Kammergericht

Alstom bringt mit seiner Klage das Verfahren in schweres Fahrwasser

© by Mirkone (CC BY-SA 4.0 Deed)

Es war ein bemerkenswerter Verhandlungstag am 23. Februar vor dem Berliner Kammergericht. Fast zehn Stunden kreisten Juristinnen und Juristen um die Frage, wie es weitergehen kann mit dem Vergabeverfahren für zwei Drittel des Berliner S-Bahnnetzes. Mindestens 1400 neue Wagen sowie einen Betreiber auf elf Linien auf den Teilnetzen “Nord-Süd” durch den Innenstadttunnel und “Stadtbahn” über das Eisenbahnviadukt in Ost-West-Richtung suchen der Berliner Senat und die Brandenburger Landesregierung.

Aufgeteilt ist diese Ausschreibung auf vier Lose, zwei je Teilnetz. Einerseits jeweils die Lieferung und Wartung der neuen Fahrzeuge, die in das Eigentum eines landeseigenen Unternehmens übergehen sollen. Hier soll der Vertrag, angepasst an die erwartete Mindestlebensdauer, 30 Jahre lang laufen. Andererseits geht es um den Betrieb, der laut aktuellen Regelungen zunächst nur für 15 Jahre vergeben werden kann. An sich ist das schon eine unübersichtliche Vertragslage.

Dass das Vergabeverfahren ein Einfallstor für juristischen Streit werden würde, war bereits vorab zu ahnen. Bewerbungen sind schließlich möglich für ein Angebot aus einer Hand für alle Teillose oder auch nur für ein Teilnetz. Oder nur für den Betrieb in zwei Netzen. Und so weiter. Neun Kombinationen insgesamt, deren Vergleichbarkeit das Dokument “Vorgehensweise bei der Auswahl des wirtschaftlichsten Angebots” regeln soll. Das nur drei Seiten starke Papier ist eine Perle an Komplexität.

Das Mammutverfahren ist so komplex geworden, weil bis zuletzt die Grünen mehr Wettbewerb wollten, um den Monopolisten Deutsche Bahn zumindest zu einem günstigen Angebot zu zwingen. SPD und Linke vertraten in der damaligen Koalition den Standpunkt, dass nur ein S-Bahnnetz aus einer Hand die nötige Stabilität garantiert und ein Verbleib bei der DB auch die größtmögliche Sicherheit für die Beschäftigten bietet. In Zeiten des auch im Eisenbahnbereich grassierenden Fachkräftemangels haben diese Argumente noch mehr Gewicht bekommen.

Zuletzt waren mehrfach die Übernahmen großer Regionalbahnnetze durch Wettbewerber mit lange anhaltendem Chaos verbunden. Alstom, mit rund 16,5 Milliarden Euro Umsatz im Geschäftsjahr 2022/2023 der zweitgrößte Bahntechnikkonzern der Welt nach dem chinesischen Giganten CRRC, fühlt sich jedoch benachteiligt. Offenbar nicht zuletzt, weil ihm der Partner abhanden gekommen ist, mit dem er gemeinsam auch den Betrieb anbieten wollte.

Im Sommer 2021 legte Alstom eine Rüge vor der an die Senatswirtschaftsverwaltung angedockten Vergabekammer ein. Die brauchte 15 Monate, bis sie die Rüge im November 2022 schließlich abwies. Je über 1000 Seiten Schriftsätze fertigten beide Seiten in dem Verfahren, das regulär fünf Wochen dauern soll. Wie schon beider Vergabe eines Großauftrags für U-Bahnwagen durch die Berliner Verkehrsbetriebe zog Alstom schließlich vor das Kammergericht. Im Falle der BVG wurden die Beschwerden vom Gericht vollumfänglich abgewiesen.

Über ein Jahr danach kam es nun am 23. Februar zur lange erwarteten mündlichen Verhandlung unter der Vorsitzenden Richterin Cornelia Holldorf. Über 160 Aktenordner umfassen die schriftlichen Unterlagen, die die Aktenschränke im Rücken des Gerichts füllen. Das Gericht kommt nach einer Systematisierung der Anwürfe auf insgesamt 25 Rügepunkte, die die Richterin im Sinne eines “Servicegdankens” auch an die anwesende Presse austeilen lässt.

Alstom-Rügen laut Aufstellung des Kammergerichts

1. Vergleichende Wertung von Einzel-, Kombinations- und Gesamtangeboten 2. Errichtung von Werkstätten 3. Gleisanschlusskosten 4. Zugbeeinflussungssystem ZBS 5. Gemeinschaftsunternehmen 6. Änderungsvorbehalt für Zuschlagskriterien und ihre Gewichtung 7. IPID-Portal 8. Wertungspreisermittlung zum Energieverbrauch 9. Lieferoptionen 10. Option der Mehrspannungsfähigkeit 11. Ausschluss bei “objektiver Undurchführbarkeit” 12. Mindestanforderungen 13. Wertungspreisabschläge für geringere Lärmemissionen 14. Stundenverrechnungssätze für Instandhaltung 15. Produktneutralität (Türbreiten und Nennspannung) 16. Dokumentationsmängel 17. Verfahrensaussetzung wegen Wahlwiederholung 18. Verhandlungsvorbehalt 19. Änderung von Wertungskriterien 20. Ortsgebundene Komponentenaufarbeitung 21. Geheimnisverrat gegenüber DB AG 22. Nichtaufhebung des Vergabeverfahrens 23. Übernahme der Komponentenaufarbeitungswerkstätten 24. Mangelnde Ausschreibungsreife 25. Verlängerung der Angebotsfrist

Relevant sind nach Ansicht des Gerichts nur die ersten fünf. Bei der Art und Weise, wie die Länder als Auftraggeber die vergleichende Wertung von Einzel-, Kombinations- und Gesamtangeboten vornehmen wollen, sei “nicht sichergestellt, dass der Zuschlag an das wirtschaftlich günstigste Angebot folgen würde”, lautet die Kritk des Kammergerichts zu Punkt 1. Denn sollte es zwar ein Angebot für die Lieferung und den Unterhalt der Fahrzeuge geben, allerdings kein korrespondierendes Angebot eines Unternehmens nur für den Betrieb, so würde nur das Gesamtangebot für alle Lose zum Zuge kommen, selbst wenn es für den separat betrachteten Fahrzeugteil teurer wäre als das Einzelangebot. “Durch Wertungsvorgabe ist nicht sichergestellt, dass sich günstigere Kombinationen durchsetzen, wenn nicht für alle Lose Einzelangebote vorliegen”, unterstreicht Richterin Holldorf die Bedenken. Kerngedanke des Vergaberechts ist jedoch, dass sich das wirtschaftlichste Angebot durchsetzt.

Zur Erinnerung: Alstom ist dem Vernehmen nach der ursprünglich vorhandene Partner für den Betrieb der Netze abhanden gekommen. Die Bewerberlage um den Großauftrag scheint so dünn zu sein, dass nur die S-Bahn Berlin GmbH zusammen mit dem Fahrzeugkonsortium Siemens/Stadler ein Gesamtangebot abgeben könnten. Dass es überhaupt ein Eisenbahn-Verkehrsunternehmen gibt, dass sich nur um den Betrieb bewirbt, scheint äußerst fraglich. Angesichts des von strengen Geheimhaltungsvorschriften geprägten Vergabeverfahrens kann nur gemutmaßt werden, denn offiziell bestätigen wird einem keiner der Beteiligten die aktuelle Lage. Die Bieter dürfen laut den Regelungen des Verfahrens zudem nicht mehrere Angebote abgeben, also nicht parallel sowohl für Teillose als auch ein Kombinations- oder Gesamtangebot. Es könnte sich also bei der Ausschreibung um einen “verkappten Gesamtauftrag” handeln, so das Gericht.

Dass überhaupt Teillose für den Betrieb gebildet worden sind, liegt an der Rechtsprechung zu Vergabeverfahren für Eisenbahnnetze. Die Betriebsleistung auf dem Berliner S-Bahnnetz ist demnach zu groß für eine Komplettvergabe in einem Verfahren. Jedes der drei Teilnetze, zu denen noch die Ringbahn nebst den Zulaufstrecken in den Südosten gehört, entspricht in etwa der Leistung des gesamten Hamburger S-Bahnnetzes. Das konnte in einem Rutsch vergeben werden.

Beim zweiten Punkt, der Errichtung von Werkstätten für die Zugunterhaltung, sieht das Gericht ebenfalls einen “Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz”. Die Deutsche Bahn war im Vorfeld nicht bereit, ihre Werkstätten zu verkaufen oder verpachten. Ein neuer Fahrzeugbetreiber muss also mit dem Aufbau neuer Standorte kalkulieren. In der Praxis dürfte der Vorteil der Deutschen Bahn wesentlich in den guten Lage der Bestandswerkstätten im Netz liegen. Die technische Ausrüstung müsste für eine neue Zugflotte weitgehend erneuert werden, was konkret sogar teurer sein kann als auf der Grünen Wiese einen auf aktuelle Anforderungen optimierten Standort neu zu errichten.

Begründet seien diese beiden Rügen von Alstom, stellt Richterin Cornelia Holldorf nach zweieinhalb Stunden Verhandlung fest, allerdings unzulässig. Warum genau sie unzulässig sind, lässt sie offen. Vermutlich, weil Alstom sie zu spät eingelegt hatte.

Begründet und zulässig sind die zwei folgenden, eher kleinen Punkte. Es sind die Kosten für die Gleisanschlüsse neuer Werkstattstandorte, die nach Ansicht des Gerichts komplett aus der Wertung genommen werden müssten sowie auch terminlich verbindliche Lieferzusagen für die Fahrzeugkompenten des spezifisch für die Berliner S-Bahn entwickelten Signalsystems ZBS. Denn einziger Lieferant ist hier Alstom-Konkurrent Siemens.

Punkt 5 der Liste, unter der Überschrift “Gemeinschaftsunternehmen”, könnte sich zukünftig allerdings noch zur Bombe entwickeln. “Die Rüge ist im Augenblick nicht begründet, weil das alles noch nicht raus ist. Sollte sich ein Zusammenschluss beteiligen, wäre es sehr sorgfältig zu prüfen”, sagt die Richterin. Dieser Punkt wäre erst dann rügefähig, wenn ein Zuschlag erfolgte. “In dieser Situation sind wir ja noch gar nicht”, so Cornelia Holldorf.

Hierzu muss erläutert werden, dass Siemens, Stadler und die S-Bahn Berlin GmbH ein Gemeinschaftsunternehmen gegründet haben, wie aus einer Mitteilung des Bundeskartellamts im Jahr 2021 wegen eines entsprechenden Fusionskontrollverfahrens bekannt wurde. Sollten die drei Unternehmen sich mit diesem Konstrukt am Wettbewerbsverfahren beteiligen, ist also dem nächsten langwierigen juristischen Streit Tür und Tor geöffnet.

Das Verhandlungsverfahren, mit dem der Bestbieter für Betrieb und Fahrzeuge gefunden werden soll, befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium. Zunächst mussten sich die interessierten Unternehmen für den Wettbewerb qualifizieren, schließlich haben sie sogenannte indikative Angebote abgegeben. Laut letztem Stand vor dem Gerichtstermin am vergangenen Freitag hätten am 28. März die Frist für verbindliche Angebote geendet, der Zuschlag hätte im dritten Quartal 2024 folgen sollen. In der laufenden Phase könnten nicht einfach Siemens, Stadler und S-Bahn Berlin GmbH wieder auf separate Angebote wechseln, sollten sie bisher mit dem Gemeinschaftsunternehmen angetreten sein.

Noch komplizierter wird die Lage durch den Wunsch des Kammergerichts, dass sich Alstom und die Länder Berlin und Brandenburg auf Vereinbarungen für die ersten vier begründeten Punkte verständigen sollen, ohne dass das Kammergericht am Ende ein Urteil fällt. Das Gericht machte am Freitag konkrete Formulierungsvorschläge.

Gerade Punkt eins, die vergleichende Wertung verschiedener Angebote, ist eine derartig grundsätzliche Voraussetzung, dass jede Änderung weitere Folgen nach sich zieht. Praktisch zum Beispiel, dass zwar ein Hersteller und Betreiber der Fahrzeuge gefunden wird, aber kein Eisenbahn-Verkehrsunternehmen. Wofür dann eine erneute Ausschreibung nötig werden würde. Oder dass Unternehmen, die wegen der bisherigen Bedingungen kein Interesse an der Ausschreibung hatten, diese wesentliche Änderung als Klagegrund sehen. Zumal die Beschwerde von Alstom wegen Unzulässigkeit eigentlich in dem Verfahren keine Rolle mehr spielen dürfte. Ganz abgesehen davon, dass im Vergabeverfahren die Kontrahenten nur in klar definierte Formen kommunizieren dürfen. Wird davon abgewichen, öffnet das ebenfalls weiteren Klagen Tür und Tor.

Für diesen Freitag, den 1. März, hat das Kammergericht einen weiteren Verhandlungstermin angesetzt, sollte es bis dahin keine Einigung geben, die letztlich zu einer Rücknahme der Klage durch Alstom führen würde.

“Das Kammergericht hat einige Punkte der Vergabekonzeption kritisiert und einen Vergleich mit dem Bewerber vorgeschlagen. Die Beteiligten werden das jetzt sorgfältig und prioritär prüfen. Für Berlin und Brandenburg ist klar, dass wir schnellstmöglich moderne, attraktive S-Bahn-Fahrzeuge und einen Ausbau des Verkehrsangebots brauchen. Die Frage ist, wie wir dieses Ziel zuverlässig und rasch erreichen können”, ließ sich Mobilitätssenatorin Manja Schreiner (CDU) in einer Mitteilung ihrer Verwaltung zitieren.

Alstom erklärt: “Das Gericht hat Alstoms wichtigste Kritikpunkte am Ausschreibungsdesign bestätigt. Dies ist aber nur der erste Schritt auf dem Weg zu einem fairen Vergabeverfahren, das die beste S-Bahn zum besten Preis für Berlin und Brandenburg garantiert. Es geht jetzt darum, gute Lösungen für die strittigen Punkte zu finden. Daran arbeiten wir konstruktiv mit.”

Ob es eine belastbare Lösung gibt, um das Vergabeverfahren rechtssicher abschließen zu können, ist damit weiter offen. Währenddessen altert die Bestandsflotte der Berliner S-Bahn weiter. Dass, wie zuletzt geplant, bereits 2030 in Größenordnungen ausreichend neue Fahrzeuge zur Verfügung stehen, um das Angebot stabil zu halten oder gar auszubauen, ist äußerst unsicher. Es könnte bald der Zeitpunkt kommen, in dem über Notvergaben für Teile des Betriebs und Neufahrzeuge nicht mehr nur laut nachgedacht wird, sondern sie auch konkret umgesetzt wird. Dafür würde nur die S-Bahn Berlin GmbH in Frage kommen. Sie hat weiterhin einen für das Ringnetz geschlossenen Rahmenvertrag mit Stadler und Siemens, aus dem fast 1000 Wagen abgerufen werden könnten.

 

 

 

 

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