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Im Zweifel für das Auto

Tempo 50 und Parkplätze sind die neue Priorität der Berliner Verkehrspolitik

© by Donald Trung Quoc Don (CC BY-SA 4.0 Deed)

Kaum eine Woche ohne Aufreger. Das ist das neue Normal in der Berliner Verkehrspolitik seit Amtsantritt von Senatorin Manja Schreiner (CDU). Nun hat die Verkehrs- und Umweltverwaltung mitgeteilt, dass auf 34 Hauptstraßenabschnitten die Beschränkung auf Tempo 30 wegfallen könnte. Das soll im Rahmen der Novellierung des Berliner Luftreinhalteplans geschehen. Der Entwurf wird ab 12. Februar öffentlich ausgelegt werden.

“Theoretisch könnten nun auf 34 Straßenabschnitten die Tempo-30-Vorgabe fallen. Für die Luftreinhaltung sind sie nicht mehr erforderlich. Das ist allerdings kein Freifahrtschein. Nur wenn die Verkehrssicherheit es hergibt, nur wenn keine Schule, Kita oder Pflegeeinrichtung am Weg liegt, wird es wieder Tempo-50 heißen”, erklärte Senatorin Schreiner dazu in einer Mitteilung.

“Der Senat übersieht dabei nicht nur, dass die Grenzwerte für Luftschadstoffe von der EU nach Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO weiter gesenkt werden müssen, sondern auch, dass Lärm und Unfallzahlen in der wachsenden Stadt in den letzten Jahren immer weiter gestiegen sind. Im letzten Lärmaktionsplan hat die Stadt erneut davor kapituliert”, entgegnet Martin Schlegel, Verkehrsexperte beim BUND Berlin.

Der BUND Berlin fordert deshalb die Beibehaltung von Tempo 30 auf den Straßen, die zu laut sind oder noch keine Radverkehrsanlagen haben. Schon mit diesen Einschränkungen dürften kaum noch Hauptstraßen übrig bleiben, wo wieder auf Tempo 30 gegangen werden könnte.

Der Fachverband Fuss hat die Unfallzahlen von 25 dieser Straßen vor und nach der Einführung von Tempo 30 im Jahr 2019 untersucht. Die Zahl der Unfälle mit Toten und Verletzten ist dort in den folgenden Jahren um 27 Prozent gesunken. “Diesen Sicherheitsgewinn will Schreiner jetzt zunichte machen – nur damit Auto- und Motorradfahrer ein paar Sekunden früher zur nächsten Ampel kommen”, konstatiert die Fußgängerlobby.

Zwar sei wegen Corona die Zahl schwerer Unfälle auch anderswo gesunken – in ganz Berlin aber nur um 12,7 statt 27,1 Prozent, wird der Effekt noch einmal unterstrichen. Der Sicherheitsgewinn durch Tempo 30 ist leicht erklärt: Muss ein Fahrer notbremsen, dann kommt er bei Tempo 30 im Schnitt nach 13 Metern zum Stehen, bei 50 erst nach 27 Metern. Und wenn doch etwas passiert, sind die Folgen viel harmloser: Das Sterberisiko ist bei Menschen, die mit 50 gerammt werden, viermal höher als bei 30.

Und natürlich meldet sich auch die Fahrradlobby von Changing Cities zu Wort. In 23 der Straßen, unter anderem auf der Leipziger Straße, teilen sich Auto- und Radverkehr dieselbe Fahrbahn. “Es ist uns allen inzwischen klar, dass die Senatorin den Autoverkehr gerne fördern will. Aber welche*r Autofahrende freut sich, bei Tempo 50 die Fahrspur mit Radfahrenden zu teilen? Auch aus Sicht der Autofahrenden ist das doch viel zu gefährlich!”, sagt Sprecherin Ragnhild Sørensen. “Wenn hier Tempo 50 erlaubt wird, ist das ein Signal in Richtung Gegeneinander und nicht Miteinander. Denn: Wer will mit Tempo 50 neben einer*m 10-Jährigen auf dem Fahrrad fahren? Das ist schlichtweg eine Zumutung – Autofahrenden ist Verkehrssicherheit doch auch wichtig!”, so Sørensen weiter.

Bemerkenswert ist auch das im Zuge der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage der Grünen-Verkehrspolitikerin Oda Hassepaß bekannt gewordene Dokument “Hinweise für die Planung von Radverkehrsanlagen (RVA)”, das von der Task Force Radverkehrsanlagen der Verkehrsverwaltung im August 2023 erarbeitet und am 11. Dezember den Berliner planenden Stellen übermittelt worden ist. Auf vier Seiten finden sich dort viele zu beachtende Hinweise für die Planung von Rad-Infrastruktur. Viele davon sind berechtigt und nachvollziehbar, wenn man Schlussfolgerungen aus den bisherigen Erfahrungen zieht. Beispielsweise, dass die Belange des ÖPNV bei der Anfahrbarkeit von Haltestellen auch des Ersatzverkehrs oder jene des Liefer- und Fußverkehrs berücksichtigt werden müssen. Zweifelhaft kann sich in der konkreten Anwendung die hohe Priorität des (Auto-)Verkehrsflusses auswirken. Auf jeden Fall kommen deutlich mehr Planungs- und Dokumentationspflichten auf die Planenden zu.

Gänzlich kontraproduktiv für Mobilitätswende und Verkehrssicherheit wird es beim Thema Parkplätze. Da ist es fast noch eine Petitesse, dass nun angegeben werden muss, wieviele Auto-Parkplätze durch den Bau der Rad-Infrastruktur wegfallen.

Wirklich problematisch sind diese drei Punkte (RVA steht für Radverkehrsanlagen):

  • Überprüfung von Möglichkeiten zur Erhaltung bestehender oder ersatzweisen Schaffung von Parkständen durch Reduzierung der Breite der RVA, ggf. auch mittels punktueller Unterschreitung von Regelmaßen
  • Überprüfung der Möglichkeiten zu halbseitigem Gehwegparken auf vorhandenen Unterstreifen und ggf. vorhandenen baulichen, nicht mehr benutzten Radwegen
  • Einschätzung der Verdrängungseffekte infolge gestiegenen Parkdrucks in angrenzende Straßennetze

Es sollen also im Zweifelsfall dem Fuß- oder Radverkehr Flächen weggenommen werden, damit Autos parken können. Über die Finanzierungsknute soll auch die Durchsetzung der Vorgaben gewährleistet werden. Denn in der Präambel heißt es: “Die nachvollziehbare Prüfung dieser Punkte ist die Voraussetzung für die Erteilung der entsprechenden straßenverkehrsbehördlichen Anordnungen für die RVA-Planungen durch die Zentrale Straßenverkehrsbehörde und hat damit Einfluss auf die Gewährung von Finanzierungsmodellen für deren Realisierung.”

Offenbar geprüft und weiter für gut befunden hat Senatorin Manja Schreiner auch eine noch von der damals grün geführten Verwaltung geplanten Maßnahme am Alexanderplatz. Auf 400 Metern in der Otto-Braun-Straße soll im Frühjahr eine Busspur ersatzlos wegfallen und zum geschützten Radweg umgewidmet werden. Ein klassischer Fall des gegeneinander Ausspielens des Umweltverbundes. Denn die Umwidmung einer der drei verbleibenden Fahrspuren zu einer Busspur ist nicht vorgesehen. Allerdings soll auf einer Spur das Parken erlaubt werden.

Das war auch Thema im Mobilitätsausschuss des Abgeordnetenhauses Ende Januar. Linke-Verkehrspolitiker Kristian Ronneburg hatte nachgefragt, wie sich dieses Vorgehen mit dem Ziel deckt, auch angesichts des grassierenden Fahrpersonalmangels beim Bus, den ÖPNV zu beschleunigen.

Manja Schreiner zeigte sich in ihrer Antwort angriffslustig: “Wenn wir Radwege anordnen, dann ist es falsch. Ordnen wir keine an, ist es falsch. So ist das eben im begrenzten Straßenraum.” Nur auf 400 Metern Länge gebe es dort eine Busspur. Neben einer Straße mit drei Spuren für die Kfz. Und deswegen ist das einfach nicht nötig, in diesem Fall den Bus-Sonderfahrstreifen an den 400 Metern aufrecht zu erhalten, wenn dort in der Stunde nur neun Busse lang fahren”, so Schreiner weiter. Sie deutet damit den Zusammenhang mit der nach der im Bundesrat Ende 2023 gescheiterten Novelle von Straßenverkehrsrecht und Straßenverkehrsordnung weiter geltenden Regelung an, die besagt, die Anordnung einer Busspur solle “in der Regel nur dann erfolgen, wenn mindestens 20 Omnibusse des Linienverkehrs pro Stunde der stärksten Verkehrsbelastung verkehren”. Wie in der Clayallee bereits geschehen, könnte also eine neue Busspur weggeklagt werden.

Schreiner nennt auch gewichtige Gründe für die Entscheidung: “Die Otto-Braun-Kreuzung wurde umgebaut, weil es da drei Todesfälle gab. Es ist eine Maßnahme der Unfallkommission, die wird jetzt durch einen Fahrradstreifen geschlossen. Und da ist auch sehr, sehr viel Fahrradverkehr. Da ist wenig Busverkehr.”

Der vom Fahrgastverband IGEB immer wieder vorgebrachten Idee, überbreite Radwege mit Nutzungsfreigabe durch Busse anzulegen, kann die Senatorin wenig abgewinnen: “Und die kombinierte Entscheidung, ob ein Bus hinter einem Pulk von Fahrradfahrern herfährt oder lieber auf einem Kfz-Streifen, wo der Verkehr fließt, das ist ja ziemlich eindeutig.”

Nicht wegzudiskutieren ist allerdrings der fade Beigeschmack der zusätzlichen Auto-Parkplätze

Tatsächlich wäre unter der gegebenen Rechtslage, an der sich in dieser Bundestags-Legislaturperiode auch nichts mehr ändern dürfte, die IGEB-Idee das einzige rechtliche Schlupfloch, mit dem sich überhaupt noch durch die Hintertür Busspuren realisieren ließen. Denn ein Bus alle drei Minuten, wie vom Bundesrecht gefordert, fährt selbst zur Hauptverkehrszeit in Berlin an nur sehr wenigen Stellen. Allerdings spricht auch sehr viel gegen die Kombination von Bus- und Radverkehr. Oft unangenehme, teils auch gefährliche gegenseitige Überholmanöver wegen unterschiedlicher Geschwindigkeiten und Haltestellenaufenthalten, gehören dazu.

Einen Hebel für die Beschleunigung von Straßenbahnen und Bussen in Berlin hat der Senat aber immer noch in der Hand. Es ist das seit vielen Jahren nicht angegangene Thema echter Vorrang an Ampeln. Wo Vorrangschaltungen oder zumindest für den ÖPNV günstigere Ampelschaltungen in Berlin bereits existierten, sind sie oft bereits seit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 deaktiviert. Bereits mehrfach wurde bereits angekündigt, sich des Themas annehmen zu wollen, zum Beispiel bei der langsamsten Berliner Straßenbahnlinie M10. Geschehen ist bis dato nichts.

Manja Schreiner verspricht nun Verbesserungen. Man sei “bemüht, die besonderen Schmerzpunkte der BVG abzuarbeiten”. Gemeinsam habe man “zehn Brennpunkte mit besonderer Relevanz definiert”. Die Hürden seien “knappe Ressourcen” und der große Aufwand. Bis spätestens Mitte 2025 soll es an zehn Ampeln Verbesserungen geben.

Der “Tagesspiegel” (Bezahlartikel) hat die Liste veröffentlicht, die die angesichts der Historie sowieso gedämpften Erwartungen noch einmal unterbietet. Als erste soll demnach die Buslinie 240 in Lichtenberg an der Kreuzung von Frankfurter Allee, Buchberger und Atzpodienstraße ab Ende Juni profitieren. Zeitgleich soll die Kreuzung der Wendeschleife der Straßenbahnlinien M13 und 50 mit der Seestraße ÖPNV-freundlicher werden. Im September soll der Knoten Danziger Straße/Kniprodestraße folgen, wo fahrplanmäßig die Tram M10 verkehrt.

Ende Oktober 2024 soll die M10 noch an zwei Stellen profitieren. Einmal an der (hauptsächlich) Fußgängerampel vor dem U-Bahnhof Warschauer Straße sowie an der Kreuzung am Frankfurter Tor. Dort stehen seit 18 Jahren die meisten Züge M10 und auch der Linie 21 satte anderthalb Minuten vor einer roten Ampel. Die Älteren erinnern sich noch, dass die Straßenbahnen früher immerhin zwei der wenige Sekunden kurzen Grünphasen hatten, um den Straßenzug Frankfurter Allee/Karl-Marx-Allee zu queren.

Ende 2024 soll noch eine weitere Ampelanlage im Wedding an der Buslinie M27 folgen, in der ersten Jahreshälfte 2025 noch drei in Zehlendorf im Zuge der Buslinien M48, X11, 101 und 118.

Ob das alles wirklich die besonderen Schmerzpunkte sind, ist fraglich. Außerdem wird man sich überraschen lassen müssen, wie konkret die geänderten Ampelschaltungen ausgestaltet werden. In dieser Hinsicht muss man in Berlin leider auf unangenehme Überraschungen gefasst sein.

 

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